Wo die verlorenen Seelen wohnen by Dermot Bolger

Wo die verlorenen Seelen wohnen by Dermot Bolger

Autor:Dermot Bolger
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
ISBN: 3414823357
Herausgeber: Boje
veröffentlicht: 2013-10-11T22:00:00+00:00


ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

JOEY

NOVEMBER 2009

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, konnte ich kaum glauben, dass sich all die Dinge in der Nacht tatsächlich ereignet hatten. Schließlich hatte ich ja nur vorgehabt, mit Shane zusammen Geschichte zu lernen. Und dann hatte ich auf einmal ein Mädchen sterben sehen, war an einem Autodiebstahl beteiligt gewesen und hatte meine innersten Gedanken und Gefühle einem nächtlichen Gespenst oder vielleicht auch nur der kalten Nachtluft preisgegeben. Jetzt im Morgenlicht war mir klar, dass Shane ein Geschichtenerzähler und Schwindler war, aber seine Schilderung der Gespensterhorden, die sich mit angstverzerrten Gesichtern gegen die Scheiben unseres dahinrasenden Autos pressten, verfolgte mich immer noch.

Während des Frühstücks sagte Mum wenig. Die vertraute Nähe zwischen uns, die wir immer als selbstverständlich hingenommen hatten, war verschwunden. Als sie mich auf ihrem Weg zur Arbeit am Temple Hill bei meiner Schule aussteigen ließ, war ich erleichtert, dem Schweigen im Auto zu entkommen und ihrer schweigenden Anschuldigung, dass ich mich da in irgendwas reinziehen ließ, das ihr nicht passte. Ich hoffte, dass Shane daran gedacht hatte, mir meine Schultasche mitzubringen. Doch ich fürchtete mich auch davor, ihm wieder zu begegnen. Wir stellen alle von Zeit zu Zeit mal was Verrücktes an, aber Shane war von einem so unbändigen Willen besessen gewesen, mich unbedingt nach Bull Island zu bringen, dass er wohl nicht davor zurückgescheut hätte, dafür falls nötig jemanden umzubringen. Ich hoffte nur, dass er mit unseren Heldentaten in der Klasse nicht angeben würde, vor allem wo Mum doch so viele Hebel in Bewegung gesetzt hatte, damit ich auf diese Schule wechseln konnte. Noch mehr Ärger mit mir hatte sie wirklich nicht verdient.

Ich betrat das Klassenzimmer, in dem wir gleich unsere Geschichtsarbeit schreiben würden. Shane war bereits da, meine Schultasche lag an meinem Platz. Zuerst schien mir, dass er mich nicht weiter beachtete. Er kritzelte etwas auf einen Zettel. Dann kam er zu mir.

»Hier sind noch mal die Jahreszahlen, mit denen du Probleme hattest. Merk dir ein paar davon und Bongo Drums wird dich für ein Genie halten.«

Er gab mir eine Liste mit fein säuberlich verzeichneten Jahreszahlen. In seinen Gesichtszügen war nichts mehr von der gestrigen Wildheit zu erkennen, nur eine fast elterliche Fürsorge. Keiner aus unserer Klasse würde ihm abnehmen, dass er vor wenigen Stunden die Dinge getan hatte, die ich mit ihm erlebt hatte, und ich begriff, dass er davon auch niemandem erzählen würde. Das wilde Treiben von vergangener Nacht war wie in eine Schublade weggesperrt. Wie viele solcher Schubladen es wohl in Shanes Leben gab? Ich musste daran denken, wie er sich selbst beschrieben hatte: als jemand, der menschliches Treibgut sammelt, angeschwemmte Seelen – schon eine sehr merkwürdige Vorstellung. Was für ein trostloses Bild, eine einsame Gestalt am Meeresrand, die den Horizont absucht, ob nicht Strandgut angespült wird; die in den Bruchstücken und Überresten des Lebens von anderen Menschen herumwühlt.

Dann betrat Bongo Drums das Klassenzimmer, verteilte Blätter und verkündete, dass die Klassenarbeit in zwei Minuten anfangen würde. Ich konzentrierte mich nur noch auf die Liste mit den Jahreszahlen, die Shane mir gegeben hatte, und versuchte, mir so viele wie möglich einzuprägen.



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